Wer kürzlich den Spielfilm »Wajib – eine Hochzeit in Nazareth« bei der ARD anschauen wollte, sah sich enttäuscht. Die von der Kritik einhellig gelobte Tragikomödie, ohnehin schon ins Nachtprogramm verbannt, war von der ARD-Programmdirektion entfernt worden: »Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in Nahost halten wir ihn aktuell aufgrund seiner Erzählperspektive alleinstehend für nicht richtig im Programm platziert.« Am gleichen Tag druckte die überregionale Tageszeitung BNN meine Stellungnahme zur Lage in Gaza zwar ab – zwei Sätze fehlten aber: Gecancelt wurde ein Zitat von Amnesty International von 2022, in dem bezüglich Israels Politik gegenüber Palästinensern von Apartheid die Rede war. Der andere Satz informierte über Beschlüsse der israelischen Regierung, Teile des Westjordanlandes zu annektieren.
Die Fälle von Sprachregelung, Zensur und Canceln häufen sich; durch ihre Alltäglichkeit lernt man, was man bei Strafe nicht sagen, nicht einmal denken darf. Auch Prominente kann es treffen, wenn sie von der staatlich sanktionierten Meinung abweichen. Seit Jahren wurde Greta Thunberg zu einer Ikone der Klimabewegung aufgebaut – bis sie kürzlich als solche gestürzt und von Medien und Parteien zur öffentlichen Feindin erklärt wurde. Ihre »Schuld«: Sie hatte mit drei Aktivistinnen sofortigen Waffenstillstand, Gerechtigkeit und Freiheit für Palästinenser und alle betroffenen Zivilisten gefordert. Der Spiegel widmete ihr und den »linken Feinden Israels« daraufhin eine Titelgeschichte. Tenor: Sie habe sich als Antisemitin entlarvt. Die Belege dafür sind grotesk (s. NachDenkSeiten, 21.11.23). Und der Grünen-Politiker Volker Beck legt nach: Sie sei »hauptberufliche Israelhasserin«! Fazit von Jens Berger, NDS: »Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, solange es sich um die richtige Meinung handelt. Man steuert den Diskurs, besitzt die Deutungshoheit und verteidigt sie (…) auch mit harten Schlägen unter die Gürtellinie. Bestrafe einen, erziehe hundert.«
Am 18.10. verteilte die ARD ein »Glossar zur internen Nutzung«. Inhalt: 44 Seiten Sprachregelung zum Krieg in Gaza. Kostprobe aus dem Text: »Wir sprechen weiterhin von ›Angriff/en aus Gaza auf Israel‹ oder ›Terrorangriff/en auf Israel‹. (…) Was unbedingt vermieden werden muss, sind Worte wie ›Gewaltspirale‹. Die israelische Armee fliegt als Reaktion Angriffe im Gaza-Streifen. Ziele waren in der Vergangenheit stets militärische Einrichtungen der Hamas. Wie bereits von der Chefredaktion festgelegt, sollten wir nicht euphemistisch von Hamas-›Kämpfern‹, sondern von Terroristen schreiben und sprechen.« Wieviel Verachtung demokratischer Grundrechte steckt in dieser internen Anweisung, wieviel Angst vor den Bürgerinnen und Bürgern! Lebt Demokratie nicht von informierten, aufgeklärten Menschen?
Die deutsche Staatsräson verteidigt angeblich die Sicherheit Israels. Sie hat nach Professor Masala (Universität der Bundeswehr) »moralisch, politisch eine Art Verfassungsrang«. Da wird eine Art Nebenverfassung konstruiert, ungeschrieben, aber machtvoll und strafbewehrt. Dazu zählt die unverbrüchliche transatlantische Partnerschaft – und sei es um den Preis von USA-Vasallentum; oder die bedingungslose militärische Unterstützung der Ukraine, die gigantische Aufrüstung der Zeitenwende oder der Kapitalismus. All das steht nicht in der Verfassung, erhält aber den Rang – notfalls mithilfe begrifflicher Konstruktionen wie »freiheitlich-demokratische Grundordnung«, gegen die zu verstoßen einen »Verfassungsfeind« entlarvt.
In einem (für die taz bemerkenswert kritischen) Beitrag beschreibt der Autor, wie in Berlin zunehmend propalästinensische Künstler ausgeladen, Veranstaltungen abgesagt werden. Eine Foto-Ausstellung muslimischen Lebens von Raphael Malik musste weichen, die Volksbühne lud den früheren Labour-Vorsitzenden Corbyn von einem Vortrag aus: Er habe sich nicht ausreichend von antisemitischen Positionen distanziert. Lesungen bekannter AutorInnen werden gecancelt. Die Preisverleihung an die palästinensische Autorin Adania Shibli: abgesagt. Die Justiz zieht mit: Bei Verwendung des palästinensischen Spruchs »From the River to the sea« soll künftig der »Anfangsverdacht des Verwendens verfassungswidriger und terroristischer Organisation bejaht sein«, wie der Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart sprachlich verquer bei dpa zitiert wird.
Wenn der Staat das Grundrecht auf Meinungs- und Pressefreiheit nur nach Maßgabe der Staatsräson anerkennt, muss er wohl die Menschenrechte auch nicht so ernst nehmen. Während nach CDU-Gesetzentwürfen Bewerber um die Staatsbürgerschaft verpflichtet werden sollen, einen Treueschwur auf das Existenzrecht Israels zu leisten, hört man keinen Protest von Regierung und konformen Parteien, ebenso wenig, wenn israelische Politiker von »human animals« in Gaza sprechen und als Ziel der Bombardements, denen bereits 13.000 Menschen zum Opfer gefallen sind, maximale Zerstörung nennen und eine ethnische Säuberung (»Gaza-Nakba«) befürworten. Wenn Kritik an der Politik Israels mit Antisemitismus gleichgesetzt wird, wird der Kampf gegen letzteren ad absurdum geführt.
Diese Politik hat nichts mit Werten und Moral zu tun, sie ist opportunistisch und heuchlerisch: Moral ist nur die Verpackung einer gnadenlosen Interessenpolitik. Dass sie mitnichten den Frieden fördert, ist offenkundig. Weder in der Ukraine noch in Gaza hat sie Friedensinitiativen ergriffen oder unterstützt – ganz im Gegenteil. Keine UN, kein Papst, schon gar nicht zahlreiche Aufrufe und Appelle der Zivilgesellschaft oder der internationalen Gemeinschaft konnten die militarisierte »Zeitenwende« bremsen. Nach wie vor gilt die bedingungslose Gefolgschaft gegenüber USA und Nato und die ebenso bedingungslose Unterstützung einer rechtsextremen Regierung, die das Menschen- und Völkerrecht missachtet und Kriegsverbrechen begeht. Vergeblich die Kritik, die Appelle und flehentlichen Bitten jüdischer und jüdisch-palästinensischer Organisationen um eine an Menschenrechten orientierte Politik.
Der Bundestag plant mit einer breiten Mehrheit der Ampelkoalition plus CDU/CSU die Einführung eines Veteranentages. Gleichzeitig bekennt sich Kanzler Scholz zu einem dauerhaften Anstieg der Militärausgaben, auch nachdem das Sondervermögen aufgebraucht ist. Die kürzlich verabschiedeten »Verteidigungspolitischen Richtlinien« beinhalten keine großen Überraschungen. Der eigene Anteil an den Ursachen der Krisen und Kriege in der Welt wird ausgeblendet; diese sollen einer militärischen Lösung zugeführt werden. »Alle Strukturen und Prozesse müssen dem übergeordneten Ziel der Wehrhaftigkeit und, für den Fall der Streitkräfte, der Kriegstüchtigkeit dienen.« Nicht nur die Streitkräfte, wir müssen, Deutschland muss kriegstüchtig werden, sagt Kriegsminister Pistorius – auch das ist inzwischen nicht hinterfragbare Staatsräson.
Der Inlandsgeheimdienst bereitet sich auf Dissidenz und Widerstand vor: Ein »Delegitimierungsspektrum« suche nach Themen wie die »wirtschaftlichen und politischen Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine« für Agitation gegen den Staat. Dies müsse als »verfassungsschutzrelevante Delegitimation des Staates« verfolgt werden. »Die diesem Phänomenbereich zugeordneten Akteure zielen darauf ab, das Vertrauen in das staatliche System zu erschüttern und dessen Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen«, schreibt das Bundesamt für Verfassungsschutz. Während die Repression nach innen zunimmt und ein autoritärer Staat Kritiker als Feinde behandelt, wird diese Politik nach außen zunehmend zur Bedrohung des Weltfriedens.
Die Zeiten haben sich geändert, aber wir erkennen im Bestreben der Machtelite Muster einer alten deutschen Ideologie, den von Bundeskanzler Ludwig Erhard geprägten Slogan von der »formierten Gesellschaft«. Wikipedia beschreibt sie euphemistisch als Gesellschaftsordnung, in der die Verbände und Parteien nicht mehr um ihre Interessen kämpfen, sondern alle Einzelinteressen dem »Gemeinwohl« unterordnen. Wo bitte ist der Unterschied zu Putins »gelenkter Demokratie«? In einer deutlichen Gegenrede (»Elf Feststellungen zur Formierten Gesellschaft«) urteilte damals Reinhard Opitz 1966 in den Blättern für deutsche und internationale Politik: Die Intentionen der führenden deutschen Wirtschaftskreise seien darauf gerichtet, Westeuropa »politisch, wirtschaftlich und militärisch zu formieren, es also (…) den Zielen der eigenen Politik gemäß auszurichten. (…) Die Demokratie soll (…) diesmal nicht weggeputscht, sie soll auf eine legale und der Bevölkerung möglichst unmerkliche, eben ›moderne‹ Art wegmanipuliert werden.« Mit Hilfe neuer Techniken des Regierens solle der politische und weltanschauliche Pluralismus überwunden, soll die öffentliche Meinung formiert werden. Wie aktuell diese Sätze klingen. Immerhin durfte man damals noch nicht von Kriegstüchtigkeit reden.